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Symbolbild mit zwei Männern, die sich streiten.
Zwei Männer, die sich streiten

Wie viel Streit verträgt die Demokratie?

Streit gilt als großes Problem in unserer Gesellschaft. Dabei stritten sich schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes leidenschaftlich über die Verfassungsordnung. Diese erlaubt es, Konflikte auch mit großer Härte auszutragen – solange demokratische Regeln und Tugenden geachtet werden. Ein Essay zum Verfassungstag am 23. Mai.

Themenfelder:
  • Essay
  • Gesellschaft
  • Theodor Heuss
  • Zeitgeschichte

Angesichts des Vormarsches rechtsextremer Parteien in der Bundesrepublik und in Europa stellt sich die Frage immer drängender: Wie viel Streit verträgt die Demokratie? Unser liberaler Verfassungsstaat lebt von der Vielfalt an Positionen, vom Ringen um das bessere Argument und von der Fähigkeit, auch abseitige, gar extreme Meinungen auszuhalten und sich ihnen zu stellen. Von Politik, Gesellschaft und Gerichten muss immer wieder neu ausgelotet werden, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit liegen, um die liberale Demokratie nicht ihren Feinden auszuliefern. Dabei gibt das Grundgesetz einen Rahmen vor, in dem Konflikte verhandelt werden können. Lässt sich mit dieser Verfassungsordnung eine autoritäre Entwicklung von Rechtsstaat, Gewaltenteilung und parlamentarischer Demokratie verhindern, ohne dass dabei unser pluralistisches Politikverständnis Schaden nimmt?

Im Parlamentarischen Rat prallten weltanschauliche Gegensätze aufeinander, die zu heftigen Debatten führten. Der engagierte, manchmal unversöhnliche Streit begleitete die Auseinandersetzungen dort von Beginn an. 

Streit im Parlamentarischen Rat

Einer Antwort kommen wir näher, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass bereits die Verhandlungen über das Gründungsdokument der Bundesrepublik 1948/49 alles andere als friedlich abliefen. Im Parlamentarischen Rat prallten weltanschauliche Gegensätze aufeinander, die zu heftigen Debatten führten. Der engagierte, manchmal unversöhnliche Streit begleitete die Auseinandersetzungen dort von Beginn an. Auch deshalb zogen sich die Beratungen länger hin, als von vielen erwartet, und drohten manchmal gar zu scheitern. Am Ende einigte sich schließlich doch eine große Mehrheit trotz aller Differenzen auf ein tragfähiges Ergebnis, das Grundgesetz. 

Da die politischen Lager um CDU/CSU und um die SPD im Parlamentarischen Rat gleich groß waren, kam der FDP als „Zünglein an der Waage“ oder – in den deftigen Worten ihres Fraktionsvorsitzenden Theodor Heuss – als „Waagscheißer“ eine besondere Rolle zu: Die liberale Fraktion vermittelte nicht allein, sondern konnte eigene Positionen mit wechselnden Mehrheiten durchsetzen. Heuss bezog in diesen Konflikten durchaus Stellung. Obwohl kompromissbereit, war er nicht allein der gütige Verfassungsvater, der mit seinem konsensorientierten Politikstil Gegensätze geschickt überbrückte und so zum Erfolg der Verfassungsberatungen beitrug. Heuss war streitbarer, als uns die spätere Darstellung vom zahmen Bundespräsidenten „Papa Heuss“ vormachen will. Ein paar Beispiele aus den Beratungen im Parlamentarischen Rat verdeutlichen, wie kämpferisch er sich zeigte.

Die Würde des Menschen

Als Mitglied des Grundsatzausschusses verhandelte Heuss einen zentralen Teil des Grundgesetzes: die Grundrechte. In diesen sollten sich die Werte zeigen, für die der neue demokratische Staat gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern einzustehen hatte. Grundrechte hatten die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht zu binden. Über diese grundlegende Bedeutung war sich der Ausschuss einig. Doch bei einzelnen Grundrechten stießen die ideologischen Gegensätze unvermittelt aufeinander. Bereits der Beginn von Artikel 1 war alles andere als unumstritten: Heuss fand den Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu unverbindlich. Stattdessen trat er hartnäckig dafür ein, den Schutzauftrag des Staates für die „Würde des menschlichen Wesens“ gleich zu Beginn des Artikels positiv zu verankern. Doch diese Staatsverehrung stieß auf Widerstand bei CDU und SPD und Heuss musste sich der Mehrheit beugen. So beginnt Artikel 1 mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und kann von keiner Mehrheit mehr verändert werden.

Umstritten war ebenso die Frage nach dem Umfang der Grundrechte. Auch hier nahm Heuss eine klare Haltung ein für eine Beschränkung auf die klassischen liberalen Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, so z. B. Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit. Forderungen von links, beispielsweise nach einem Grundrecht auf Arbeit, konnte er gemeinsam mit anderen erfolgreich verhindern. 

Im Laufe der Verhandlungen übten jedoch die beiden christlichen Kirchen massiven Druck auf die Abgeordneten aus. Sie wollten das Recht aufnehmen lassen, dass der Staat auf Antrag der Eltern evangelische oder katholische Schulen einrichten müsse. CDU und CSU übernahmen diese Forderung, und so entbrannte ein heftiger Streit. Heuss gehörte zu den entschiedenen Befürwortern christlicher Gemeinschaftsschulen für katholische und evangelische Kinder. Bei konfessionellen Schulen drohte seiner Ansicht nach eine Isolierung der Schülerinnen und Schüler verschiedener Glaubensrichtungen und eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Heuss wurde scharf vor allem von der katholischen Kirche angegriffen, ihm gar das Christentum abgesprochen. An diesem Streitpunkt drohte das ganze Verfassungswerk zu scheitern, doch gelang es ihm schließlich gemeinsam mit der SPD, die Aufnahme dieses Grundrechts zu verhindern. Die Unionsparteien mussten das zähneknirschend akzeptieren.

Recht, sich zu drücken

Anders hingegen sah es beim Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus: „dass jeder sich drücken darf, auch wenn es sich um einen Verteidigungskrieg handelt“, gehörte für Heuss nicht in das Grundgesetz, doch manövrierte er sich mit dieser Auffassung in eine hoffnungslose Minderheitenposition. Er sah im Wehrdienst „eine Pflicht in der Demokratie“, fügte sich dann aber einer deutlichen Mehrheit im Parlamentarischen Rat, die das Grundrecht festschrieb: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Wenige Jahre nach Kriegsende zeigte sich ein Großteil der Abgeordneten sensibler in dieser Frage als Heuss.

Selbstverständlich erhitzten auch zahlreiche Verfassungsfragen außerhalb der Grundrechte die Gemüter im Parlamentarischen Rat. Bei der Gestaltung der Bundesflagge konnte Heuss die Aufnahme eines Kreuzes in die Farben Schwarz-Rot-Gold – eine Forderung der christlichen Unionsparteien – gemeinsam mit der SPD verhindern. Konflikte provozierte er damit auch in seiner eigenen Partei: Der nationalistische Flügel im FDP-Bundesvorstand hing noch den Farben des Kaiserreiches Schwarz-Weiß-Rot an, stieß damit aber auf entschiedenen Widerstand ihres Vorsitzenden Heuss.

Die Streitkultur, wie wir sie im Parlamentarischen Rat erlebt haben, ergriff im Laufe der 1950er Jahre auch Teile der deutschen Bevölkerung. Es meldete sich eine Zivilgesellschaft zu Wort, die sich gegen obrigkeitsstaatliches Denken wandte und Pluralismus sowie Emanzipation von überholten Traditionen einforderte. 

Streitkultur des Grundgesetzes

Schon diese wenigen Einblicke in die Debatten über das Grundgesetz machen deutlich, wie sehr Konflikte die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik prägten. Theodor Heuss ging Streit nicht aus dem Weg, wenn es darum ging, eigene Positionen durchzusetzen. Es gelang ihm dabei immer wieder, Mehrheiten zu organisieren, er zog aber in manchen Fällen auch den Kürzeren und musste nachgeben. Letztlich war allen Abgeordneten der Zwang zur Einigung bewusst, denn sonst hätte sich die unmittelbare alliierte Besatzungsherrschaft fortgesetzt. So verabschiedeten am 8. Mai 1949 53 Abgeordnete bei zwölf Gegenstimmen das Grundgesetz, das am 23. Mai in Kraft trat. Konfliktfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Kompromissbereitschaft hatten zu einer klaren Mehrheitsentscheidung geführt. Die Abgeordneten hatten demonstriert, wie viel Streit die Beratungen über das Grundgesetz vertrugen, ohne in unversöhnliche Feindschaft auszuarten und das Verfassungswerk scheitern zu lassen.

Die Streitkultur, wie wir sie im Parlamentarischen Rat erlebt haben, ergriff im Laufe der 1950er Jahre auch Teile der deutschen Bevölkerung. Es meldete sich eine Zivilgesellschaft zu Wort, die sich gegen obrigkeitsstaatliches Denken wandte und Pluralismus sowie Emanzipation von überholten Traditionen einforderte. Daraus entwickelten sich große politische und gesellschaftliche Konflikte zu zentralen Problemfeldern der jungen Bundesrepublik: Mittels Auseinandersetzungen beispielsweise über die Wiederbewaffnung, die NS-Vergangenheit oder die Atomkraft bildete sich eine aktive, streitbare Staatsbürgergesellschaft heraus, die selbstbewusst auf ihre Rechte, vor allem Grundrechte pochte.

Die Verfassungsordnung ließ öffentliche Konflikte zu, die zum Lebenselixier einer pluralistischen Demokratie gehören. Dies hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigt. In seinen Urteilen vergrößerte es die Reichweite der Grundrechte: als Anspruch auf soziale und politische Teilhabe in einem vielstimmigen Diskursraum. So wurde über Jahrzehnte hinweg das Grundgesetz in der Bevölkerung zu einer breit akzeptierten Konsensbasis für das friedliche Austragen von Interessengegensätzen, in dem auch Streit seinen legitimen Platz hat. Auch widersprechende Positionen konnten das Grundgesetz für sich in Anspruch nehmen. Konfliktparteien interpretierten Grundrechte unterschiedlich oder spielten sie gegeneinander aus, man denke beispielsweise an die Coronapandemie und den Konflikt Freiheit versus Recht auf Leben. Hier musste das Bundesverfassungsgericht konkurrierende Grundrechte abwägen.

Foto zweier Bücher zu Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat

Neue Herausforderungen

Bis heute werden zwar einzelne Bestimmungen und Änderungen – vor allem Erweiterungen – des Grundgesetzes kritisiert, als Ganzes wird es aber kaum infrage gestellt. Nach der Wiedervereinigung erwogen nur wenige ernsthaft eine Alternative. 2024 hielten knapp zwei Drittel der Deutschen das Grundgesetz für die größte Errungenschaft der Bundesrepublik. Und dennoch stellt sich gegenwärtig immer drängender die Frage, ob es angesichts der Erfolge einer rechtsextremen Partei eine autoritäre Entwicklung der Demokratie verhindern kann. Zwar hält die Verfassung durchaus Mittel zum Schutz der liberalen Demokratie bereit: Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Föderalismus oder auch Instrumente der wehrhaften Demokratie wie das Parteienverbot. 

Doch was machen wir, wenn diese liberalen Prinzipien an Rückhalt in der Bevölkerung verlieren? Wenn Parteien eine Mehrheit bekommen, die den „wahren“ und „einen“ Volkswillen durchsetzen wollen und keinen mühsamen Ausgleich verschiedener Interessen anstreben, gar den Schutz von Minderheiten? Wenn Regierungen ihre Macht nicht begrenzen lassen wollen, weil eine Mehrheit hinter ihnen steht? Wenn Verfassungen, Verfassungsgerichte, das demokratische Wahlrecht oder unabhängige Medien vielleicht nicht abgeschafft, aber so umgestaltet werden, dass sie die Durchsetzung des „echten“ Volkswillens nicht behindern? Anzeichen dafür erkennen wir in Ungarn, Israel und – seit dem Beginn der zweiten Amtszeit Trumps – in den USA.

Auch schmerzhafte Positionen aushalten

Können wir eine solche Entwicklung in Deutschland mit verfassungsrechtlichen Mitteln stoppen? Parteiverbote sind umstritten und bergen Risiken, weil sie demokratische Wahlentscheidungen torpedieren und der Wähler sich anderweitig Luft verschaffen wird. Anstatt populistische Parteien aus dem demokratischen Wettbewerb auszuschließen und sie damit in ihrer Opferrolle zu bestätigen, sollten wir vielmehr ihre provokanten, abseitigen und vielleicht auch schmerzhaften Positionen aushalten und uns mit ihnen auseinandersetzen. Das Grundgesetz bietet einen weiten, wenn auch nicht unbegrenzten Rahmen der Konfliktaustragung, es ist eine „Rechtsordnung des politischen Kampfes“, wie der dritte Bundespräsident Gustav Heinemann einmal formulierte. 

Die Grenzen der Meinungsfreiheit verlaufen sehr weit und können offizielle Geschichtsbilder und gar einzelne Punkte der Verfassung infrage stellen. Wer den Nationalsozialismus für eine linke Bewegung hält, wer die bundesstaatliche Ordnung kritisiert, weil sie Reformen blockiere, wer parlamentarische Prozesse infrage stellt, weil sie zu träge seien für die Bekämpfung des Klimawandels, ja selbst wer ein Kalifat fordert, ohne es gewaltsam durchsetzen zu wollen, kann sich noch auf die Meinungsfreiheit berufen, muss sich aber auch auf Widerspruch einstellen. Grenzen sind erst dann erreicht, wenn zum Beispiel das Persönlichkeitsrecht verletzt, der Holocaust geleugnet, Volksverhetzung betrieben oder zum gewaltsamen Umsturz der Verfassungsordnung aufgerufen wird. Dann greift das scharfe Schwert des Strafrechts!

Gegner als Partner

Bereits die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat trugen ihre Konflikte mit großer Härte aus und mussten sich mit nationalistischen, völkischen oder auch autoritären Positionen auseinandersetzen. Diese hatten die Verfassungsarbeit nicht gesprengt, sondern im Ergebnis zu einem mühsam ausgehandelten Kompromiss geführt. Dass der Streit oftmals produktiv gewendet wurde und nicht eskalierte, machen die Auseinandersetzungen im Parlamentarischen Rat deutlich. Auch die Verfassungsarbeit des durchaus kämpferischen Theodor Heuss trug dazu bei. Trotz fundamentaler Gegensätze waren es schließlich individuelle Haltungen wie Fairness, Solidarität, Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein, von denen sich die meisten Abgeordneten im Streit leiten ließen. Heuss bezeichnete dies als „Demokratie als Lebensform“, welche die Köpfe, gar die Herzen der Menschen erreichen müsse. Somit sind es politische Tugenden einer demokratischen Kultur, die im Streit – so die Worte von Heuss – „die Anerkennung eines freien Menschentums fordert, das auch im Gegner den Partner sieht, den Mitspieler.“

Deshalb braucht es mehr als das Grundgesetz, das Bundesverfassungsgericht oder den Verfassungsschutz. Es braucht auch Zivilcourage und Überzeugungskraft der Bürgerschaft, um den populistischen Verächtern der liberalen Demokratie entgegenzutreten. Als mündige Staatsbürger sollten wir den Konflikt nicht scheuen, den unsere pluralistische Demokratie auszuhalten hat. Grenzen setzen nicht nur die Verfassung, Rechtsprechung und Politik, sondern auch wir.

Das Grundgesetz von Theodor Heuss im digitalen Museum ...

Der Beitrag

erschien zuerst am 7. Mai 2025 im Online-Bereich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Ernst Wolfgang Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Er leitet das Theodor-Heuss-Archiv und hat unter anderem eine Biografie von Theodor Heuss verfasst.

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