Zum Inhalt springen

Vom Mut, sich zu schämen

Vor 75 Jahren hielt Theodor Heuss vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit eine Rede, in der er „Kollektivscham“ forderte - und sich viel Kritik einhandelte.

Themenfelder:
  • Erinnerung
  • Essay
  • On this Day

Rund 600 geladene Gäste sitzen im Wiesbadener Kurhaus, jenem neoklassizistischen Prunkbau, der vom Zweiten Weltkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogen und nur notdürftig instand gesetzt wurde. Unter den Anwesenden ist auch der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy als Vertreter der amerikanischen Besatzungsbehörde. Die „Neue Zeitung“ ist da, um zu berichten, und auch der Südwestfunk hat sich angemeldet und zeichnet die Veranstaltung auf, um sie wenig später im Radio auszustrahlen. Auf Einladung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit warten sie an diesem 7. Dezember auf Theodor Heuss, den 65-jährigen Journalisten und Politiker, der sich wenige Wochen nach seiner Wahl zum ersten Bundespräsidenten auf Besuchsreise in der hessischen Landeshauptstadt befindet.

Heuss gilt damals als gefälliger Redner, doch als er seinen weitgehend frei gehaltenen Vortrag beginnt, wird schnell klar, dass er nicht vorhat, ein nettes Grußwort voller staatstragender Floskeln zu sprechen. Dass Heuss anderes vorhat, zeigt sich spätestens, als er zu einer Frage ansetzt, die sein Publikum noch wochenlang bewegen wird: „Sind wir, bin ich, bist du schuld, weil wir in Deutschland lebten, mitschuld an diesem teuflischen Unrecht?“

Ein halbes Jahrzehnt nach Kriegsende stehen die Zeichen der Zeit auf Verdrängung und Neuanfang.

Scham statt Schlussstrich 

Heuss’ Frage ist an diesem 7. Dezember 1949 keineswegs rhetorisch gemeint. Nur wenige Wochen zuvor hat der frisch gewählte Bundeskanzler Konrad Adenauer den Bürgerinnen und Bürgern einen weitgehenden Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit versprochen: Zwar will auch Adenauer die „wirklich Schuldigen“ am nationalsozialistischen Unrecht zur Rechenschaft bringen, die große Mehrheit der Deutschen soll aber einen unbelasteten Neuanfang in der frisch gegründeten Bundesrepublik genießen: „tabula rasa“ nannte Adenauer das. Auch der Bundestag sieht das so und hat keine Woche vor der Heuss’schen Rede über ein erstes Amnestiegesetz beraten, von dem auch Zehntausende NS-Täter profitieren. Ein halbes Jahrzehnt nach Kriegsende stehen die Zeichen der Zeit auf Verdrängung und Neuanfang – nicht zuletzt in Heuss’ eigener Partei, der FDP. Einige Landesverbände der Liberalen setzen sich in der frühen Bundesrepublik besonders energisch für die Interessen ehemaliger Nationalsozialisten ein, sehr zum Ärger von Heuss, der sich vom rechten Flügel, der „Nazi-FDP“, wie er es ausdrückt, distanziert.

Dass der liberale Bundespräsident die Deutschen keine fünf Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft auffordert, sich selbst zu hinterfragen, ist also unerhört. Denn dass die meisten Deutschen jede Mitschuld an den Verbrechen an den Jüdinnen und Juden energisch von sich weisen, ist Heuss bewusst. Umso bemerkenswerter ist das, was der Präsident von seinem Publikum verlangt: das eigene Gewissen zu prüfen im Angesicht der Verbrechen der Vergangenheit, denn, so Heuss, „etwas wie Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben“.

Keine „Kollektivschuld“ 

Aus heutiger Sicht sind auch Heuss’ Worte fragwürdig. Mit seiner Forderung nach „Kollektivscham“ wehrt sich der Präsident auch gegen den „Kollektivschuld“-Vorwurf, der in den 1940er Jahren von den meisten Deutschen empört zurückgewiesen wird. Auch Heuss ist keine Ausnahme: Die Kollektivschuld sei eine „Vereinfachung“, ja sogar eine „Umdrehung, nämlich der Art, wie die Nazis gewohnt waren, die Juden anzusehen“. Die Deutschen als neue Juden? Das ist starker Tobak, wird zeitgenössisch aber von vielen geteilt. Mit seiner „Kollektivscham“ bietet Heuss nun den Deutschen eine weichere Alternative an, die leichter zu verdauen ist: Wenn schon nicht Schuldgefühle, so sollen die Deutschen wenigstens Schamgefühle zulassen.

Auch die Art und Weise, wie Heuss die Verbrechen an den Jüdinnen und Juden beschreibt, passt in die Zeit, in der Deutsche vom Holocaust gerne im Passiv sprechen, als einem gleichsam täterlosen Verbrechen – oder wie Heuss es ausdrückt: einem „teuflischen Unrecht, das sich an dem jüdischen Volk vollzogen“ habe. Doch nicht nur das jüdische Volk, auch die Deutschen können sich weiter als Opfer fühlen, denn, so Heuss, „das Schlimmste, was Hitler uns antat – und er hat uns viel angetan –, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen den Namen Deutsche zu tragen.“

Die Schutzbehauptung, von den Ns-Verbrechen nichts gewusst zu haben, lässt Heuss nicht gelten.

Nicht vergessen 

Und doch sind es nicht diese aus heutiger Sicht problematischen Formulierungen der Heuss’schen Rede, die bei den Bürgerinnen und Bürgern im Dezember 1949 auf Kritik stießen. Vielmehr erreichen den Präsidenten empörte Zuschriften, die jede Übernahme von Verantwortung energisch von sich weisen. „Scham kann man doch nur gegenüber eigenem Verschulden oder Mitwirken empfinden“, so eine dieser Stimmen. Für „die natürliche Tatsache“ aber, in einem Land geboren zu sein, treffe niemanden Schuld, so ein Arzt aus Marburg, der sich dem Bundespräsidenten gegenüber als Gegner des Nationalsozialismus vorstellt. „Alles Fordern von Kollektivempfinden, Schuld oder Scham, ist Nazigeist“ – das reden sich viele Deutsche ein.

Heuss ist bereits in Wiesbaden bewusst, dass seine Worte solche Reaktionen hervorrufen und „manche Leute ärgern“ werden. Dass ihn als Präsident „anonyme Briefe“ erreichen, sieht er aber als Teil des Jobs. Trotzdem macht er gegenüber seinem Publikum kein Hehl, was er von solcher Kritik hält: Es gibt „Dinge, wo nicht die Logik, sondern die Empfindung spricht.“ Auch die häufige Schutzbehauptung, von den NS-Verbrechen nichts gewusst zu haben, lässt der Präsident nicht gelten: „Wir dürfen nicht vergessen“, so das präsidiale Diktum. „Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, den Synagogenbrand, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, ins Unglück, in den Tod.“ So explizit spricht das zu dieser Zeit kaum ein Deutscher aus und schon längst kein Amtsträger.

„Mut zur Liebe“ 

„Mut zur Liebe“ überschreibt Theodor Heuss selbst seine weitgehend frei gehaltene Wiesbadener Rede über die Verbrechen an Jüdinnen und Juden, die kollektive Scham der Deutschen und die Notwendigkeit des Erinnerns. Was aus heutiger Sicht eigenartig anmutet, ist auch der Versuch präsidialen Emotionsmanagements, versucht Heuss doch, seiner Rede einen positiven Spin zu geben: Die Deutschen sollten sich gerade nicht schamvoll in die Ecke zurückziehen, sondern sich im Gegenteil positiveren Gefühlen zuwenden: Hass sei „billig und bequem“, die Liebe aber „ein Wagnis“.

Dieses Wagnis fordert Heuss nicht nur von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Er erhofft es sich auch von den Jüdinnen und Juden. Deren Vergebung ist dem Präsidenten im Dezember 1949 wichtiger als die Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung. Tatsächlich trägt Theodor Heuss mit seiner Rede vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit maßgeblich dazu bei, das Vertrauen der jüdischen Community in den jungen Weststaat, den Rechtsnachfolger des Dritten Reichs, zu fördern. Davon wird er selbst und wird die Bundesrepublik noch Jahrzehnte lang zehren.

75 Jahre danach haben Reden wie die von Heuss vieles von ihrer Provokation verloren, ist der Appell an die selbstkritische Auseinandersetzung mit deutscher Verantwortung doch zum wohlfeiles Standard-Sound präsidialer Reden geworden. Und doch ist die Kollektivscham-Rede vom 7. Dezember 1949 wieder aktueller, als man es sich erhoffen würde. Dass das von Heuss erhoffte Vertrauen von Jüdinnen und Juden in die Bundesrepublik angesichts neuer antisemitischer Ausschreitungen und Anfeindungen wieder auf dem Spiel steht, hätte dem ersten Bundespräsidenten schwer zugesetzt. Das Gleiche gilt für alle jene Stimmen, die auch heute noch oder wieder jede Verantwortung dafür von sich weisen oder gar die historische Schuld an den Verbrechen von früher infrage stellen. Entsprechend gut stünde es den Deutschen auch heute wieder zu Gesicht, sich kollektiv zu schämen.

Der Artikel erschien zuerst am 4. Dezember 2024 in der Frankfurter Rundschau.

Thorsten Holzhauser ist Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Neben dem Theoblog schreibt er gelegentlich für große Tages- und Wochenzeitungen - und teilt mit Theodor Heuss nicht nur die Initialien, sondern auch das Interesse an Politik und Zeitgeschichte.

Weitere Beiträge des Autors/der Autorin:

Schwerpunkt Rechtsaußen

Rechte Wahlerfolge, Gewaltandrohungen und Umbaupläne: Der Rechtsextremismus gehört zu den großen Gefahren unserer liberalen Demokratie. Mit der Schwerpunktreihe „Rechtsaußen“ wirft das Theodor-Heuss-Haus einige Schlaglichter auf seine Geschichte – und auf die Herausforderungen der Gegenwart.

Privatsphären-Einstellungen

Wir verwenden auf dieser Website mehrere Arten von Cookies und Integrationen, um Ihnen ein optimales Online-Erlebnis zu ermöglichen, die Nutzerfreundlichkeit unseres Portals zu erhöhen und unsere Kommunikation mit Ihnen stetig zu verbessern. Sie können entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten und welche nicht (mehr dazu unter „Individuelle Einstellung“).

Cookies

Name Verwendung Laufzeit
privacylayerStatusvereinbarung Cookie-Hinweis1 Jahr
fe_typo_userIdentifikation der aktuellen SitzungEnde der Sitzung
PHPSESSIDIdentifikation der aktuellen SitzungEnde der Sitzung

Cookies

Name Verwendung Laufzeit
_pk_idMatomo13 Monate
_pk_refMatomo6 Monate
_pk_sesMatomo30 Minuten
_pk_cvarMatomo30 Minuten
_pk_hsrMatomo30 Minuten
_pk_testcookieMatomoEnde der Sitzung

Integrationen

Name Verwendung
youtubeYoutube Video Einbindung
vimeoVimeo Video Einbindung