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Sind unsere Wahlen demokratisch genug?

Das deutsche Wahlsystem steckt zwar nicht in einer Krise – aber es steht unter Reformdruck. Johanna Liebhäuser über einen lebendigen Abend zum Wahlrecht, zur Sperrklausel und die Frage, wann man reif genug ist, um wählen zu können. 

Themenfelder:
  • Gesellschaft
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Demokratie auf dem Prüfstand

Das Thema der öffentlichen Podiumsdiskussion beim Theodor-Heuss-Kolloquium 2025 lautete: Sind unsere Wahlen demokratisch genug? Die Stuttgarter Politologin Angelika Vetter, Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V. aus Berlin und die Juristin Johanna Mittrop aus Leipzig diskutierten, moderiert von Felix Heidenreich aus Stuttgart, zwei Stunden lang über Wahlverfahren, Zugänglichkeit und Praxis des Wahlrechts. 

Wie unterschiedlich das deutsche Wahlsystem bewertet wird, zeigte sich gleich zu Beginn: Ralf-Uwe Beck sah in der Wahl einen seltenen Moment der Gleichheit – „Die Stimme eines Achtzehnjährigen wiegt so viel wie die einer Achtzigjährigen“ –, kritisierte aber, das Verfahren sei „nicht demokratisch genug“. Der Wählerwille müsse sichtbarer werden. Er nannte fünf Defizite: Ausschluss von Millionen dauerhaft hier lebender Ausländerinnen und Ausländer, Verlust von Stimmen durch die Sperrklausel, fehlender Einfluss auf Listenplätze, Resignation enttäuschter Wählerinnen und Wähler sowie die Regierungsdominanz in Wahlrechtskommissionen. Sein Fazit: Mehr direkte Demokratie, mehr Mitbestimmung.

Johanna Mittrop erinnerte daran, dass Artikel 38 und 39 des Grundgesetzes den Wahlrahmen zwar klar abstecken, aber hier viel Gestaltungsspielraum lassen – Spielraum, der stärker genutzt werden könne und vielleicht müsse. Angelika Vetter betonte im Anschluss, dass demokratische Wahlen auf vier Prinzipien beruhen: Repräsentation, Einfachheit, Mehrheitsbildung und Wahlfreiheit. Diese seien in Deutschland erfüllt. Kritik am System sei legitim, Alarmismus aber fehl am Platz.

Das Podium. V. l. n. r.: Ralf-Uwe Beck, Angelika Vetter, Johanna Maria Mittrop, Felix Heidenreich (SBTH/Schoberth).
Ralf-Uwe Beck (SBTH/Schoberth).
Johanna Maria Mittrop (SBTH/Schoberth).
Angelika Vetter (SBTH/Schoberth)

Sperrklausel, Wahlalter und mehr Mitbestimmung

Felix Heidenreich griff die von Beck genannten Reformpunkte auf und strukturierte damit die Diskussion. Zunächst ging es um die Sperrklausel: Beck sprach sich für eine Senkung aus – auch mit Blick auf künftige Koalitionen. Alternativ schlug er eine „Ersatzstimme“ vor, damit Wählerinnen und Wähler bei Nichterreichen der 5%-Hürde eine zweite Partei unterstützen könnten.
Vetter warnte vor dem Verlust an Vorhersehbarkeit; Mittrop sah die Stärke der Sperrklausel in ihrer stabilisierenden Funktion, Sie verhindere Zersplitterung und ermögliche Kompromissfähigkeit. Einigkeit fand sich nicht: Beck wollte die Hürde senken, Vetter und Mittrop nicht.

Beim Thema Wahlalter herrschte mehr Konsens – zumindest auf dem Podium. Angesichts der demografischen Schieflage und Krisen wie dem Klimawandel befürworteten Beck und Mittrop die Absenkung des Wahlalters. Wahlen in Schulen zu begleiten, sei eine Chance. Beck forderte zudem, Lernprozesse demokratischer Teilhabe stärker zu institutionalisieren, etwa durch Jugendwahlregister oder ein bundesweites Konzept für Jugendbeteiligung.

Beim Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer gingen die Meinungen auseinander. Mittrop betonte: Wahlberechtigt sei, wer deutsche Staatsangehörigkeit besitze; der Hebel liege also im Staatsangehörigkeitsrecht. Vetter ergänzte, Bürgerinnen und Bürger der EU dürften kommunal wählen; andere hätten zwar Beteiligungsmöglichkeiten, nutzten sie aber kaum. Beck forderte, die Partizipationschancen von rund zehn Millionen dauerhaft hier lebenden Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit zu stärken – etwa durch Volksbegehren oder Einwohneranträge, unabhängig vom Wahlrecht.

Gäste in der Diskussion (SBTH/Schoberth).

Müssen Wahlen neu gedacht werden?

Am Schluss fragte Heidenreich, wie Wahlen wieder attraktiver, festlicher, bedeutsamer gestaltet werden könnten. Beck schlug vor, neue Modelle – Wahlpflicht, Jugendwahlregister, längere Wahltermine, einfachere Briefwahl – zunächst kommunal zu erproben. Mittrop widersprach entschieden: Die Urnenwahl sei das zentrale demokratische Ritual. Brief- oder Onlinewahl sollten Ausnahmen bleiben, um das „auratische Moment der Vergemeinschaftung“ zu bewahren. Vetter sah ohnehin keinen Anlass zum Experimentieren – die Wahlbeteiligung sei hoch.

Kontrovers diskutierte auch das Publikum die Fragen nach dem Wahlalter und warum auch viele junge Wähler die rechtsextreme Partei AfD wählen. Schülerinnen eines Politikkurses gaben zu bedenken, dass die demokratischen Parteien im Vergleich in den sozialen Medien zu wenig aktiv und gleichgültig bei für Jugendlichen wichtigen Themen wie Ausbildungschancen, digitaler Teilhabe und Klimaschutz seien.

Ralf-Uwe Beck griff das auf und schloss die Diskussion mit deutlichen Worten: „Dass junge Leute die AfD wählen, liegt am Versagen der anderen Parteien. Sie müssen sich endlich um junge Menschen kümmern – sonst verlieren wir sie. Und ohne sie keine stabile Demokratie.“

Johanna Liebhäuser studiert Deutsch, Geschichte und Philosophie an der Universität Stuttgart. Sie arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft und als Besucherführerin bei der Stiftung Bundespräsident Theodor-Heuss-Haus.

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