- 03. April 2025
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- 100 Köpfe der Demokratie
Bewegende Bilder gingen am 27. Februar 2022 durch die Presse. In Berlin hatten sich Hunderttausende von Menschen versammelt, um ihren Protest gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Ohnmacht und Angst zum Ausdruck zu bringen. Angst und Ohnmacht – das waren auch die Beweggründe von Millionen Menschen, die 1983 auf die Straße gingen, um gegen die geplante Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses zu protestieren.
Zwar waren die Voraussetzungen unterschiedlich, doch ging es in beiden Fällen um Überlebensfragen von Sicherheit, Frieden und Freiheit. Diese Parallelen sind mir als Historikerin bewusst. Ich nehme auch heute Ängste meiner Mitmenschen wahr – vor unberechenbaren Despoten und einem drohenden Krieg. In meinem Studium habe ich jedoch gelernt, dass Diplomatie allein keine Konflikte löst. Aus einer Position der Schwäche heraus kann es keine erfolgreichen Verhandlungen geben.
Ein Fachkollege, der mir in dieser Einschätzung vermutlich zugestimmt hätte, ist Helmut Kohl, der als Bundeskanzler 1983 maßgeblich an der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses beteiligt war. Am 3. April 2025 wäre der Bundeskanzler und gelernte Historiker 95 Jahre alt geworden.
Dies ist Anlass genug, um ein weniger beleuchtetes Thema seiner Kanzlerschaft zu beleuchten. Wenngleich die Wissenschaft den eigentlichen Beschluss von 1979 und dessen Entstehung bereits intensiv erforscht hat, so ist die Phase der Umsetzung, im Vergleich dazu, bislang weniger in den Fokus genommen worden. Im Folgenden möchte ich mich daher diesem Beispiel widmen und hier vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Politik und Gesellschaft betrachten. Dabei geht es mir einerseits um die Frage, inwieweit Abschreckung und Standhaftigkeit Garanten für Sicherheit sein können. Andererseits möchte ich untersuchen, inwiefern Proste einen Beitrag zur Sinnstiftung in Demokratien leisten.
Der NATO-Doppelbeschluss als innenpolitische Herausforderung
Mit der Ankündigung, dass der im Dezember 1979 initiierte Doppelbeschluss am Ende des Jahres 1983 durchgesetzt werden sollte, breiteten sich in der bundesdeutschen Bevölkerung Horrorszenarien von einem unmittelbar bevorstehenden Atomkrieg aus. Aus damaliger Sicht waren diese Ängste nicht unbegründet, waren die Bundesrepublik und die DDR als „Frontstaaten“ des Kalten Krieges doch unmittelbar vom Ende der Entspannungspolitik zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR betroffen. Aufgrund ihrer geopolitischen Lage an der Grenze zwischen Ost und West wären sie zudem die ersten Opfer einer militärischen Auseinandersetzung geworden.
Wie tiefgehend diese Ängste waren, zeigt sich vor allem am Wiedererstarken der Friedensbewegung seit Mitte der 1970er Jahre in Westdeutschland, die auch eine Entsprechung in der DDR fand. In Westdeutschland war es ihr möglich, so viele Menschen zu mobilisieren, dass in den frühen 1980er Jahren die größte Protestbewegung in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte entstand. Zwar wurde „Straßenprotest“ damals einem bestimmten Milieu zugeschrieben – vor allem der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. In der Friedensbewegung versammelten sich jedoch die unterschiedlichsten Menschen und Positionen. Sie war in ihrer Organisation, ihrer Zusammensetzung und bisweilen auch in ihren Zielen durchaus heterogen. Gemeinsamer Konsens aber war die Forderung, den NATO-Doppelbeschluss abzuwenden und Abrüstung als Maxime der bundesdeutschen Sicherheitspolitik zu etablieren. Dabei nutzte die Bewegung die um sich greifenden Ängste und heizte diese noch weiter an.
Da die Regierung von der Notwendigkeit des NATO-Doppelbeschlusses überzeugt war, war es unvermeidbar, dass sie mit der Friedensbewegung aneinandergeriet. Eine neue Dimension erhielten die Auseinandersetzungen mit den vorgezogenen Wahlen im März 1983. Zum ersten Mal seit 1957 zog mit den Grünen eine vierte Partei in den Deutschen Bundestag ein und mit ihnen prominente Vertreterinnen und Vertreter der Friedensbewegung – darunter die Parteimitbegründer Petra Kelly und der ehemalige Bundeswehroffizier Gert Bastian.
Helmut Kohls Verständnis von Abschreckung und Sicherheit
Eine treibende Kraft in den Umsetzungsbemühungen auf Regierungsseite war der seit Oktober 1982 amtierende Bundeskanzler. Zu dieser Zeit war Helmut Kohl (CDU) noch das, was ich in der Retrospektive einen überzeugten „Kalten Krieger“ nennen würde. Er hatte ein klares Feindbild von der Sowjetunion und ihren Verbündeten innerhalb des Warschauer Pakts. Auch war er sich über die sowjetischen Machtansprüche und über das militärische Potential des Warschauer Pakts bewusst. Daher stand die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses für Kohl außer Frage. Er war davon überzeugt, dass allein die Abschreckung, auch jene mit Nuklearwaffen, den Frieden und die Freiheit zukünftig sichern könne.[1]
Schon vor der Regierungsübernahme 1982 hatte sich die Union auf Seiten des damaligen SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt gestellt und sich eindeutig für die Umsetzung des Beschlusses in seinen beiden Teilen ausgesprochen. Dies beinhaltete die mögliche nukleare Aufrüstung einerseits bei zeitgleichen Verhandlungen über mögliche Abrüstungsbemühungen mit der Sowjetunion andererseits. Kohl und seine Mitstreiter bewiesen damit ein klares Gespür für die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit: Für glaubwürdige Abschreckung braucht es den politischen Willen, aber auch die Fähigkeit, diplomatische Kanäle weiterhin zu nutzen – genau das war auch die Quintessenz des Doppelbeschlusses.
Demokratische Konfrontation: Protest und Politik 1983
Die Auseinandersetzungen zwischen Politik und Friedensbewegung in den 1980er Jahren veranschaulichen deutlich das Potential, das Proteste in und für Demokratien haben können. Obwohl – oder gerade weil – sie Möglichkeiten zur politischen Teilhabe schaffen, erlauben die freiheitlichen Grundrechte der Bundesrepublik auch, Widersprich zu üben und weitreichendere Rechte zu fordern. Sich damit auseinanderzusetzen gehört zu den Kernaufgaben des parlamentarischen Systems.
Je mehr Anhänger die Friedensbewegung in den frühen 1980er Jahren mobilisieren konnte, desto mehr war die Regierung dazu gezwungen, ihre Sicherheitspolitik in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Dabei ging es vor allem darum, mit den eigenen sicherheitspolitischen Positionen die Deutungshoheit über die Debatte zu erlangen.
Daher war die Regierung bemüht, die ernstzunehmenden Ängste der Bürgerinnen und Bürger durch detaillierte Informationen und sachliche Argumentation zu entkräften. Zu diesem Zweck wurde eine große Medienkampagne gestartet. Diese griff auch von der Friedensbewegung mobilisierte Slogans auf und deutete diese um. Helmut Kohl prägte hierbei den Leitsatz „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“.[2] Unter diesem Motto veranstaltete die CDU im Februar 1983 einen Friedenskongress und machte so deutlich, dass die Partei, wie Verteidigungsminister Manfred Wörner formulierte, nicht willens war, der Friedensbewegung den „moralischen Monopolanspruch“ zu überlassen.[3] Nur wer bereit war, den Frieden und die Freiheit notfalls bewaffnet zu verteidigen, konnte dieselben langfristig gewährleisten – das war das christdemokratische Verständnis von Friedenssicherung.
Zugleich war die Union gewillt, das eigene christdemokratische Profil zu schärfen, weiterzuentwickeln und nach außen zu kommunizieren. Sie bemühte sich daher darum, innerparteiliche Geschlossenheit zu demonstrieren. Da sie durch ein konstruktives Misstrauensvotum an die Macht gekommen war, wollte sich die Regierungskoalition in den Wahlen von 1983 vom Volk bestätigen lassen. Darüber hinaus hatte die Friedensbewegung für den Herbst desselben Jahres ihre bis dahin größten und umfangreichsten Protestaktionen angekündigt. Mit dem Beginn der Regierung Kohl entwickelte sich die CDU daher wieder hin zu einer „Kanzlerpartei“, in der sich die Mitglieder um ihre Führungspersönlichkeit sammelten. Entsprechend war Kohl, neben Verteidigungsminister Wörner, einer der aktivsten Protagonisten der Union in der Auseinandersetzung mit der Friedenbewegung.
Im Parlament artikulierte er, dass die Entscheidung „in einer demokratischen Verfassung […] bei der Mehrheit des frei gewählten Parlaments“ liege. Insofern dürfe es gerade bei „Überlebensfragen […] nicht die geringste Legitimation für den Anspruch einer Minderheit, ihren Willen gegen eine Mehrheit durchzusetzen“, geben.[4] Hierin wurde auch Kohls Verständnis von Demokratie ersichtlich. Er war zudem überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht von Angst erschüttert war, sondern vielmehr zum Prinzip der Abschreckung und den Bündnisverpflichtungen stehe – so schwer diese bisweilen auch gewesen sein mögen.
Zeitgleich bewies er aber auch seine, ihm eigene pfälzische Gelassenheit: „Wenn die Leute partout auf der Straße sitzen wollen – dann lassen wir sie sitzen.“[5] Dass die von ihm propagierten Maßnahmen notwendig waren, daran gab es für ihn keinen Zweifel – selbst dann nicht, als der Kanzler am 22. November 1983, dem Tag der Abstimmung über den NATO-Doppelbeschluss im Deutschen Bundestag, mit dem Hubschrauber über den Bonner Hofgarten flog und dort auf die fast 300 000 Demonstranten blickte, die sich zur Abschlusskundgebung der Friedensbewegung versammelt hatten.
Fazit und Ausblick
An jenem Tag stimmte das bundesdeutsche Parlament mit 286 zu 225 Stimmen für den Regierungsantrag zur Stationierung der US-Mittelstreckenraketen. Bereits am darauffolgenden Tag trafen die ersten Raketen in Westdeutschland ein. Die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den USA in Genf scheiterten kurz darauf.
Die Standhaftigkeit der Bundesregierung trug in großem Maße zur Festigung der NATO bei, die ihre Glaubwürdigkeit und somit auch das militärische Gegenwicht zur Sowjetunion aufrechterhalten konnte. Dies hat dazu beigetragen, dass die Welt von einem Atomkrieg verschont geblieben ist.
Nach Ende des Kalten Krieges schien die Gefahr gebannt – die Betonung liegt hier auf dem Schein. Die „Friedensdividende“ hat sich längst als Illusion erwiesen. Wenngleich sich die Verteidigungsplanung und -konzeption, vor allem nach 9/11, auf Gebiete außerhalb des Bündnisses und somit auf Stabilisierungs- und Kampfeinsätze fokussierte, so haben sich die Verhältnisse in den letzten 10 Jahren wieder verändert. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 sind die aggressiven Macht- und Expansionsansprüche Russlands unbestreitbar. Spätestens mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine 2022 entwickelten sich die Bündnisplanungen erneut in Richtung Landes- und Bündnisverteidigung. Damit bekommen konkrete Abschreckungsstrategien wieder einen zentralen Platz in der NATO und in den Diskussionen um Sicherheit, Frieden und Freiheit.
Das Beispiel der Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss zeigt aber auch, dass Demokratie und Protest Hand in Hand gehen. Selbst dort, wo liberale Systeme den Menschen größtmögliche politische Teilhabe gewähren, gibt es immer wieder Anlass für öffentlichen Widerspruch oder die Forderung nach weitergehenden Rechten. Ansprüche an Demokratien sind niemals statisch – sie entwickeln sich stets weiter. Damit müssen parlamentarische Systeme bis heute umgehen.
Betrachte ich die heutigen politischen Entwicklungen, wage ich zu bezweifeln, dass wir fähig sind, aus der Geschichte zu lernen. Es wäre jedoch wünschenswert, sich an erfolgreichen politischen Entscheidungen aus der Vergangenheit zu orientieren. Aus der Standhaftigkeit Kohls, der Bundesrepublik, der USA und der NATO in den frühen 1980er Jahren können wir für heute lernen, dass Abschreckung funktionieren kann, allerdings nur – und das ist essenziell – wenn sie glaubwürdig ist. Heutige Diskussionen um nationale Aufrüstung, um eine Europa-Armee oder eine gemeinschaftliche, europäische Sicherheits- und Verteidigungsstrategie sind daher mitnichten Ausdruck eines neuen Militarismus – im Gegenteil: Sie sind notwendig, damit wir als westliche Gemeinschaft unsere Glaubwürdigkeit in sicherheits- und verteidigungspolitischer Hinsicht nicht verlieren. Öffentlichen Straßenprotest dazu darf und muss es geben. Die Verantwortung für solche Entscheidungen liegt in einer repräsentativen Demokratie aber letztlich beim Parlament.
[1] Vgl. Rede Helmut Kohl bei der Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Doppelbeschluss der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen. In: BT-Plenarprotokoll 10/35, S. 2322.
[2]Rede Helmut Kohl bei der Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Doppelbeschluss der NATO und Stand der Genfer INF-Verhandlungen. In: BT-Plenarprotokoll 10/35, S. 2322 A.
[3] Rede Manfred Wörner bei der Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Ergebnis der NATO-Konferenz am 9./10. Juni 1983, 15.06.1983. In: BT-Plenarprotokoll 10/13, S. 722 B.
[4] Ebd., S. 2328 C; S. 2330 C
[5] Zitiert in: Rödder, Andreas: Bündnissolidarität und Rüstungskontrollpolitik. Die Regierung Kohl-Genscher, der NATO-Doppelbeschluss und die Innenseite der Außenpolitik. In: Gassert, Philipp/Geiger, Tim/Wentker, Hermann (Hrsg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive. München 2011, S. 133.