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Die Verhältnisse zum Tanzen bringen: Ralf Dahrendorfs „Reith Lecture“ 1974

In der britischen BBC hält der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf 1974 sechs Radio-Vorlesungen und entwirft die Grundzüge einer „liberalen Option“: Er fordert Lebensverbesserung statt Wachstum, Freiheit statt Bürokratie – und mehr politische Steuerung. Es ist der Versuch, die Gesellschaft zu analysieren und zugleich mitzugestalten. Ein Essay von Thomas Hertfelder. 

Themenfelder:
  • 100 Köpfe der Demokratie
  • Essay
  • Liberalismus

Am Abend des 20. November 1974 erleben die Hörerinnen und Hörer der Programme BBC 4 und BBC World Service eine dramatische Ansage: „Das Überleben der Menschheit ist gefährdet“. In fließendem Britisch, doch mit leicht deutschem Akzent fährt die Stimme fort: „Warum tun wir dann nicht mehr dagegen?“ Das Radio abzuschalten war in diesem Moment kaum eine Option. Am Mikrophon saß der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf, der gerade sein Amt als neuer Direktor der renommierten London School of Economics and Political Science (LSE) angetreten hatte. Im Rahmen der „Reith Lectures“ der BBC, benannt nach dem Gründervater der britischen Rundfunkanstalt Lord Reith, hielt der frischgebackene LSE-Direktor eine sechsteilige Vorlesung zum Thema „The New Liberty“.[1]  Weltweit folgten rund eine Million neugieriger Hörerinnen und Hörer jeweils mittwochs und samstags dieser Lecture, mit der Dahrendorf vor großem Publikum seine akademische Visitenkarte als neues Mitglied des britischen High-Class-Establishment abgab. 

„Warum tun wir nichts dagegen?“: Vom Ende der Nachkriegsära

Das Bild der Lage, das Dahrendorf zeichnet, ist düster. Galoppierende Energiepreise, das „Pulverfass“ einer schleichenden Inflation (die 1974 im Vereinigten Königreich einen Wert von 16 Prozent erreicht hatte), ein neuer Krieg im Nahen Osten, ein instabiles Weltwährungssystem, ein forcierter nuklearer Rüstungswettlauf sowie jene drohenden Umwelt- und Ressourcenkatastrophen, wie sie der „Club of Rome“ 1972 in seinem Bericht von den „Grenzen des Wachstums“ prognostiziert hatte – Dahrendorf nimmt sich Krise für Krise vor. Sein nüchternes Resümee: Wenn die Politik jetzt versäume, neue Wege einzuschlagen, dann sei „der Zusammenbruch unserer Volkswirtschaften, Gesellschaften und politischen Gemeinwesen nur eine Frage der Zeit.“[2]

Das aktuellste Beispiel der allgemeinen Misere bietet ihm der sogenannte Ölpreisschock. Durch gezielte Verknappung des Angebots hatten die erdölexportierenden Länder des Nahen Ostens den Ölpreis in schwindelerregende Höhen getrieben und damit das Geschäftsmodell der westlichen Industriegesellschaften ins Wanken gebracht. Einen neuerlichen Preisschub hatte der Jom-Kippur-Krieg ausgelöst, den Ägypten und Syrien am 6. Oktober 1973 mit einem gemeinsam geführten Überraschungsangriff auf Israel vom Zaun gebrochen hatten. Manche europäische Regierung reagierte drastisch. So hatte der konservative britische Ministerpräsident Edward Heath seit der Silvesternacht 1973 vorübergehend die Elektrizität für Betriebe rationiert, während der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt im Herbst 1973 für Westdeutschland vier autofreie Sonntage angeordnet hatte. Viele Beobachter sahen die düsteren Prognosen des Club of Rome bestätigt, der mit der Parole von den „Grenzen des Wachstums“ einen griffigen Deutungsrahmen bereitgestellt hatte. Schon in seiner ersten Reith Lecture macht Dahrendorf klar: Spätestens mit dem Jom-Kippur-Krieg und seinen Folgen ist das Ende der Nachkriegsära angebrochen.

Für die nun anbrechende, neue Zeit bedürfe es eines fundamentalen Paradigmenwechsels:  „Wachstum darf nicht und kann nicht im Zentrum unseres Interesses stehen, wenn wir die neue Freiheit suchen.“ Freiheit versus Wachstum – eine pikante Pointe aus dem Munde eines Liberalen.

Die Abgründe der „Expansionsgesellschaft“

Jene Nachkriegsära, deren Ende Dahrendorf 1974 diagnostiziert, war in Europa und den USA von drei Jahrzehnten kräftigen wirtschaftlichen Wachstums und einer beachtlichen Ausweitung des Wohlstands geprägt gewesen. Experten sollten später in blumigen Formeln von „dreißig glorreichen Jahren“ (Jean Fourastié) oder gar einem „Goldenen Zeitalter“ (Eric Hobsbawm) sprechen. Dahrendorf schlägt in seiner Reith Lecture den nüchternen Begriff der „Expansionsgesellschaft“ vor. In dieser Gesellschaft, so der Soziologe, sei alles auf quantitative Ausweitung getrimmt: Wirtschaft, Wohlstand, Konsum, Ansprüche, Staatsausgaben und Ressourcenverbrauch. Politik und Wissenschaft der Nachkriegsära seien geradezu „verhext“ von dieser Expansion gewesen. Für die nun anbrechende, neue Zeit bedürfe es eines fundamentalen Paradigmenwechsels: „Wachstum darf nicht und kann nicht im Zentrum unseres Interesses stehen, wenn wir die neue Freiheit suchen.“[3] Freiheit versus Wachstum – eine pikante Pointe aus dem Munde eines Liberalen.

Seine These macht Dahrendorf an einer Reihe von Strukturproblemen fest, die der jahrzehntelange Boom den Bürgerinnen und Bürgern beschert hatte: 

Erstens: Inflation als „Expansionsersatz“: Die Inflation war für alle spürbar. Dahrendorf sieht sie als „Expansion ohne Wachstum, eine Art Wachstumsersatz, eine Karikatur der Mentalität, die hinter der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrzehnte stand.“[4] In dieser Inflation finde ein versteckter Verteilungskampf mit erheblicher sozialer Sprengkraft statt, da Gewinner, meist Organisationen mit großer Marktmacht wie Großunternehmen und Gewerkschaften, die Kosten der Geldentwertung auf Dritte, etwa die Verbraucherinnen und Verbraucher, abwälzten.

Zweitens: Bürokratisierung als „neue Hörigkeit“: Dahrendorf erkennt im rasanten Wachstum der Staatsaufgaben und den gewaltigen bürokratischen Apparaten, die damit verbunden sind, ein neues „Gehäuse der Hörigkeit“. Bürokratien würden den mündigen Bürger erneut in die Rolle des Bittstellers und Untertanen stoßen – ein Albtraum für Liberale. Auch das herrschaftssoziologische Dilemma der Bürokratisierung findet der LSE-Direktor beunruhigend. Denn entweder würde die Politik von ihren Apparaten absorbiert und damit paralysiert  – das klassische Argument Max Webers. Oder die politische Führung degeneriere zur „Führung ohne Relevanz“, indem sie einfach über die Köpfe der Bürokraten hinweg agiere. Bürokratien folgen in Dahrendorfs Interpretation zudem einer vertrackten Dialektik: „Wenn wir sie erst haben, hindern sie uns daran, das zu tun, wofür wir sie brauchen.“ [5] Diese Denkfigur verallgemeinert der Soziologe in seiner fünften Vorlesung: „Die Kräfte einer aufgeklärten Rationalität scheinen sich gegen ihre besten Zwecke zu wenden.“[6] Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten das in ihrem Kultbuch „Dialektik der Aufklärung“ kaum anders formuliert.[7]

Drittens: Kartellierung des Klassenkonflikts: Schließlich analysiert der Konflikttheoretiker Dahrendorf die Transformation des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit in der „Expansionsgesellschaft“. Dessen Hauptlinie sieht er im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsjahrzehnte nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit verlaufen. Stattdessen hätten sich die beiden Produktivkräfte in mächtigen Organisationen zusammengeschlossen, die ihre Interessen in Zeiten der Stagnation gemeinsam gegen Dritte durchsetzen könnten, etwa durch erzwungene staatliche Subventionen oder Importzölle. Dahrendorf sieht beide Gruppen in einer „Mischung von falscher Autonomie und nackter Macht“ agieren, indem sie sich von jenen Rechtsnormen freimachten, an die sich die Bürgerinnen und Bürger halten müssten. In dieser Interpretation, die bald Schule machen sollte, bildeten Kapital und Arbeit in der Krise der „Expansionsgesellschaft“ ein Kartell zur Verteidigung des industriegesellschaftlichen Status Quo. Mehr noch: Die Kartellierung der Interessen habe inzwischen die gesamte Gesellschaft erfasst und beschwöre damit die Gefahr einer Lähmung wirksamen politischen Handelns herauf. Nicht Konkurrenz oder Koordination, sondern die Anarchie autonomer Machtkomplexe bestimmt in dieser Sicht die sozialökonomische Lage. Unter solchen 
Vorzeichen aber stellt sich die Legitimitätsfrage der Demokratie in neuer Weise: Die „legitime Regierung“ könne „nahezu paralysiert werden […] durch ein Chaos von sich überlagernden Pressionen durch ‚autonome Gruppen‘.“[8]

Die britischen Hörerinnen und Hörer der BBC dürften sofort verstanden haben, was der LSE-Direktor meinte. Hatten sie nicht vielfach erlebt, wie sämtliche Anläufe ihrer Regierungen im Kampf gegen die ökonomische Krise und gegen das „British Decline“ an mächtigen, gut organisierten Interessengruppen gescheitert waren? Und war nicht ihr Land allzu oft von lang anhaltenden Streiks und dem Zusammenbruch der öffentlichen Infrastruktur gelähmt worden? 

Ralf Dahrendorf

(1929-2009) war ein deutsch-britischer Soziologe, Publizist und liberaler Politiker (FDP; Liberal Democrats). In seiner langen Karriere war er u.a. Mitglied des Bundestags, Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter der sozial-liberalen Koalition sowie Mitglied der Europäischen Kommission. Nach seiner politischen Karriere in Deutschland war er Direktor der London School of Economics und später Mitglied des britischen House of Lords als “Baron Dahrendorf”. 

Warum nicht die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen?

Um aus der Spirale von Krisen herauszufinden, schlägt Dahrendorf einen Paradigmenwechsel vor: Qualität statt Quantität, Verbesserung statt Ausweitung, „Meliorationsgesellschaft“ statt „Expansionsgesellschaft“, so lauten seine Stichworte. In der „Meliorationsgesellschaft“, also einer auf qualitative Verbesserung des Lebens ausgerichteten Gesellschaftsform, komme es darauf an, „die Versteinerung der bestehenden Produktionsverhältnisse aufzubrechen“. Nur so sei „das menschliche Leben als integrale Tätigkeit gegen alle partiellen Ansprüche der Gesellschaft zu behaupten.“[9] Bemerkungen wie diese erinnern an Dahrendorfs frühen Klassiker „Homo Sociologicus“ aus dem Jahr 1958. Dort hatte der Soziologe das vergesellschaftete Individuum als Träger vielfältiger sozial vorgeformter Rollen und als ein entfremdetes Wesen interpretiert, das unter den Zumutungen der Gesellschaft als einer „ärgerlichen Tatsache“ zu leiden habe.[10] 

Was sich wahlweise wie eine Utopie des frühen Marx oder der späte Albtraum eines „unternehmerischen Selbst“ liest, meint Dahrendorf durchaus ernst. Er möchte darauf bestehen, dass Freiheit „alle Lebensbereiche regieren muss“, sowohl im Sinne der „Offenheit für Wandel“ als auch um „des Primats individueller Lebenschancen“ willen.

In seiner Reith Lecture geht es dem mit Marx bestens vertrauten Dahrendorf erneut darum, das entfremdete Leben aus den „unnötigen Kästchen einer ererbten Arbeitsteilung“ zu befreien.[11] Überdeterminierte Arbeit einerseits und eine bis zur Beliebigkeit unterdeterminierte Freizeit andererseits, starre Altersgrenzen für den Ruhestand, die strikte Segmentierung von Biographien in „Ausbildung“, „Arbeit“ und „Ruhestand“ – all dies sind die unerträglichen Pathologien der „Expansionsgesellschaft“. In der nun zu gestaltenden „Meliorationsgesellschaft“ komme es hingegen darauf an, diese drei Formen menschlicher Betätigung neu auszubalancieren und in die soziale Konstruktion des Lebens besser zu integrieren. 

In diesem Sinne möchte Dahrendorf die „Schleifung der Wälle zwischen Bildung, Arbeit und Freizeit“ vorantreiben. Den Bürgerinnen und Bürgern sollen lebenslang breitgefächerte Bildungsprogramme offenstehen, Sabbaticals sollen für jedermann möglich sein, Arbeitsprozesse durch betriebliche Mitbestimmung und Teamwork selbstbestimmt gestaltet und Arbeitszeiten, das Renteneintrittsalter, aber auch die Ladenöffnungszeiten flexibilisiert werden. Gegen die „Versteinerung einer verfehlten Arbeitsteilung“ fragt Dahrendorf, „warum Menschen nicht neben ihrem ersten noch einen zweiten Beruf haben sollten […]: Warum nicht morgens jagen, nachmittags fischen oder, in weniger ländlichen Beispielen, morgens Steuern einziehen und nachmittags einigen Steuerzahlern die Autos reparieren, morgens Fernsehapparate montieren und abends ein Technikum besuchen?“[12]

Was sich wahlweise wie eine Utopie des frühen Marx oder der späte Albtraum eines „unternehmerischen Selbst“ liest,[13] meint Dahrendorf durchaus ernst. Er möchte darauf bestehen, dass Freiheit „alle Lebensbereiche regieren muss“, sowohl im Sinne der „Offenheit für Wandel“ als auch um „des Primats individueller Lebenschancen“ willen.[14] Warum nicht die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen? 

Strategien des Wandels

Wie aber soll der Ausstieg aus den Krisen und Zwangslagen der „Expansionsgesellschaft“ gelingen? Dahrendorf hat drei Strategien vor Augen:

Erstens: Marktregulierung gegen Inflation: Überraschend für einen Liberalen empfiehlt Dahrendorf eine verstärkte politische Regulierung des Marktes, die auf eine Einschränkung der Tarifautonomie und ein Moratorium für Preis- und Einkommenserhöhungen hinauslaufen könne. Zudem schwebt ihm, weniger überraschend, eine „Ökonomie des guten Haushaltens“ vor.[15]

Zweitens: Mobilisierung der Öffentlichkeit: Optimistisch und aufklärerisch klingt Dahrendorfs zweite Strategie. Es gelte, „die Macht der allgemeinen Öffentlichkeit über alle sektoralen und technokratischen Ansprüche“ zu mobilisieren. Denn unter dem Druck des öffentlichen Diskurses würden die Menschen zum Argumentieren gezwungen statt bloß ihre partiellen Interessen zu verfolgen. In diesem Vorschlag lässt sich eine Verneigung vor seinem Kollegen und Gegenspieler Jürgen Habermas erkennen, der 1962 in seinem Klassiker „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die „Refeudalisierung“ und „Inszenierung“ der Öffentlichkeit im Namen einer emphatisch verstandenen Aufklärung kritisiert hatte.[16] Auch der Reith Lecturer selbst stand offenbar noch im Bann jener kritischen Öffentlichkeit der 1960er und frühen 1970er Jahre, an der er damals in Westdeutschland maßgeblich mitgewirkt hatte. Nun will er eine rational diskutierende Öffentlichkeit gegen die entfremdete und vermachtete Welt der „Expansionsgesellschaft“ in Stellung bringen – und so den „Aufstand des Einzelnen gegen die Sklerose der Expansionsgesellschaft“ ermöglichen.[17]

Drittens: Ein Konsultativgremium nach dem Modell der „Konzertierten Aktion“: Dahrendorfs dritter Vorschlag ist konkreter. Er zielt auf die Gründung eines Konsultativgremiums, in dem die wichtigsten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen im Sinne eines „umfassenden Sozialvertrags“ auf ihre allgemeine Verantwortung verpflichtet werden sollen. Ein solcher Rat soll unabhängig vom Parlament, aber doch auf dieses bezogen agieren und durch die Koordination der konfligierenden Interessen verhindern, dass das Land noch weiter in die Unregierbarkeit abrutscht. Damit empfiehlt Dahrendorf seiner britischen Wahlheimat ein Modell, das in der Bundesrepublik unter dem Namen „Konzertierte Aktion“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Von 1967 bis 1977 hatten Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Bundesbank und Bundesregierung in regelmäßigen Beratungen ihr ökonomisches und fiskalpolitisches Handeln im Namen einer ökonomischen „Globalsteuerung“ zu koordinieren versucht. Dieser Steuerungsoptimismus durchzieht auch Dahrendorfs Vorlesung. Was dieser nicht kommen sieht: Die folgenden Jahrzehnte sollten keineswegs mehr im Zeichen der Steuerung, sondern – im Gegenteil – im Zeichen von „mehr Markt“ und Margret Thatchers radikalen Reformen stehen. 

Mit seiner Reith Lecture vom Spätherbst 1974 präsentiert sich Dahrendorf als politischer Soziologe, der die Gesellschaft nicht nur analysieren, sondern zugleich in einem liberalen Sinn gezielt verändern will.  Gegen autoritären Dystopien setzt Dahrendorf die „liberale Option“, indem er den Glauben an die Vernunft und Steuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften nicht aufgibt.

Eine Vorlesung im Übergang der Zeiten

Mit seiner Reith Lecture vom Spätherbst 1974 präsentiert sich der Direktor der London School of Economics vor einem interessierten britischen Rundfunkpublikum als politischer Soziologe, der die Gesellschaft nicht nur analysieren, sondern zugleich in einem liberalen Sinn gezielt verändern will. Seine Thesen sind im Kontext einer breiten zeitgenössischen Diskussion über die Deutung des Epochenübergangs der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu lesen, die von Schlagwörtern und Theoremen wie „Future Shock“ und den „Grenzen des Wachstums“, von der „Unregierbarkeit“ westlicher Demokratien und den „Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus“, von der kommenden „Postindustriellen Gesellschaft“ und einer „Stillen Revolution“ des Wandels der Werte bestimmt war.[18] Verhalten optimistisch begibt sich Dahrendorf im „psychologisch […] deprimierendsten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts“ (Tony Judt)[19] auf die Suche nach einer „neuen Freiheit“, die er im Übergang von der überkommenen „Expansionsgesellschaft“ zu einer die Individuen weniger fremdbestimmenden „Meliorationsgesellschaft“ zu gewinnen sucht. Mit seinen Vorschlägen zur Neuorganisation der Arbeit erweist er sich, durchaus überraschend, als früher Vordenker einer „postbürokratischen Subjektkultur des Arbeitens“ (Andreas Reckwitz).[20]

Seine Vorlesung wendet sich insbesondere gegen fatalistische Prognosen, wie sie damals etwa der US-amerikanische Ökonom Robert L. Heilbroner abgegeben hatte. In einer wahrhaft apokalyptischen Schrift unter dem Titel „An Inquiry into the Human Prospect“ hatte Heilbroner 1974 argumentiert, dass zur Bewältigung der Polykrise der 1970er Jahre autoritäre Regierungen nach dem Muster Chinas „unvermeidlich, ja notwendig“ seien.[21] Gegen solche autoritären Dystopien setzt Dahrendorf die „liberale Option“ (so der Titel der zweiten Vorlesung), indem er die Chancen für eine „Sozialökonomik der Maximierung individueller Lebenschancen“ auslotet und dabei den Glauben an die Vernunft und Steuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften nicht aufgibt.[22] Wer Dahrendorfs Vorlesung heute in der Mediathek der BBC nachhört, bekommt einen Geschmack von der Dramatik, mit der der Übergang der Zeiten damals empfunden und wissenschaftlich reflektiert wurde.

Die Reith Lectures

sind eine seit 1948 bestehende Radio-Vortragsreihe der britischen Rundfunkanstalt BBC. In ihr kommen bedeutende Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und aus anderen Bereichen des öffentlichen Lebens zu Wort. Sie werden auf BBC Radio 4 und auf BBC World Service ausgestrahlt. Benannt sind sie nach dem ersten Direktor der BBC Sir John Reith. 

Die Reith Lecture von Ralf Dahrendorf kann hier nachgehört werden: https://www.bbc.co.uk/programmes/p00h5dvn

 

Anmerkungen

[1] Ralf Dahrendorf: The New Liberty. Survival and Justice in a Changing World. The Reith Lectures, London 1975. Die Zitatnachweise beziehen sich im Folgenden auf die deutsche Taschenbuchausgabe im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1980; Zitate auf S. 33 u. 31.
[2] Ebd., S. 30 f.
[3] Dahrendorf, Freiheit, S. 21.
[4] Ebd., S. 24.
[5] Ebd., S. 52, 54f.
[6] Ebd., S. 87.
[7] Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969 [1944].
[8] Dahrendorf, Freiheit, S. 42.
[9] Ebd., S. 90f.
[10] Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der sozialen RolleOpladen 1958, hier zitiert nach der 15. Auflage, Wiesbaden 2010, S. 17.
[11] Dahrendorf, Freiheit, S. 104.
[12] Ebd., S. 94, 96.
[13] Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt 2007. 
[14] Dahrendorf, Freiheit, S. 101.
[15] Ebd., S. 102f. 
[16] Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
[17] Dahrendorf, Freiheit, S. 45.
[18] Vgl. Alvin Toffler: Future Shock, New York 1970; Donella u. Dennis L. Meadows: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972; Wilhelm Hennis (Hg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Stuttgart 1977; Daniel Bell: The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973; Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973; Robert Inglehart: The Silent Revoution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977.
[19] Tony Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 540.
[20] Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Berlin 2020, S. 503.
[21] Robert L. Heilbroner: An Inquiry into the Human Prospect, New York 1974, hier zit. n. der deutschen Ausgabe: Die Zukunft der Menschheit, Frankfurt 1976, S. 79, 89.
[22] Dahrendorf, Freiheit, S. 15.

Thomas Hertfelder ist Historiker und war bis Januar 2025 Geschäftsführer der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus.

Weitere Beiträge des Autors/der Autorin:

Verluste, eine Herausforderung für die liberale Demokratie

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